Ludmila Vachtova

Bignia Corradini
Tropfen für den Ozean und Flecken zum Firmament

Wer bist du, Bild? Eine Landschaft? Erde über dem Himmel in einem kataklystischen Zustand, noch nicht ganz geboren oder schon zerstört? Ein magnetisches Feld von Kraftlinien, die sich nach unzählbaren Polen richten? Atmen und Puls im Seismogramm? Ein vom stillen Schrei zerfetztes Gesicht? Ein Ringsherum, als Nichtform geformt?

 «Leinwand ist Körper für mich», schrieb Bignia Corradini 1982. Das Bekenntnis zur Körperlichkeit, welche durch den Malakt einen direkten Bezug von Person zu Person aufnimmt, bestimmt von Anfang an ihr Schaffen, auch wenn die heutigen Bilder  noch so «abstrakt» erscheinen. In einem Rückblick von zehn Jahren behauptet sich die innere Logik ihrer Arbeit überzeugend genug. Die Malerin, knapp 24, bestritt ihre erste Einzelausstellung in der Zürcher Galerie Stummer 1975. Die Entwicklung, einem Strom ähnlich, beschleunigt sich mit dem Willen nach einer prägnanten und offenen Aussage.

 Lehrjahre an der Textilfachschule Zürich und der Hochschule der Künste in Berlin waren eine gute Grundlage: «In der Beziehung zum Handwerk bin ich eher altmodisch», meint Bignia Corradini, was bedeutet, dass eine sichere Handhabung der Ausdrucksmittel und ein Respekt vor dem «Wesen» des Materials malerische Abenteuer erst möglich machen. Der Ortswechsel von Zürich nach Berlin, vom Gewohnten zur unerbittlichen Urbanität, schlug sich in ihrer Haltung nieder.

 Sie weigert sich gegen «automatische» Verwurzelung, lässt sich aber auch nicht durch Zufälle hin und her treiben und bestimmt ihr Unterwegssein selbst: Fortschreiten, nicht weglaufen, stets zum Aufbruch bereit, fest auf dem Boden stehen und sich den Herausforderungen neuer Räume und Situationen stellen, bewegt sein und beweglich bleiben.

 Mit «Frauen» und «Landschaften» macht sich Bignia Corradini bald einen Namen in der Schweizer Kunstszene der siebziger Jahre. Die zwei unabhängigen Themenbereiche ergänzen, ja verzahnen sich in einem seltsam zyklischen Rhythmus: Die Frau ist Landschaft, sie verlässt die Landschaft, und die Landschaft wird zur Frau. Realistisch gemalt, meist grau in grau gehalten, entfalten sich die Arbeiten von These zu Bild. Bei diesem Verwandlungsprozess braucht die Landschaft vorerst ihr «Motiv» – eine Wiese oder ein Feld und frauenkämpferische Attribute oder Amazonenposen – allmählich aber behauptet sich die ideologische Brisanz durch die Bildtextur und Malschrift in einer Art konstruktiver Wut, welche über die Grenzen des Feminismus hinausgreift. Gleichzeitig aktiviert und verselbständigt sich die Farbe und dynamisiert die Formen derart stark, dass der Bildraum zu bersten droht. Die Figur verliert ihren Inhalt, das Bildthema erweitert sich, die Stunde ist zum Aufbruch reif.

Splitter

Splitter, 228 x 197cm, Acryl auf Leinwand, 1981

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2019 / Foto: Jochen Littkemann

Bignia Corradini weiss jetzt, dass sie dem Weg rein malerischer Mittel weiter folgen muss, und steuert in den Bereich der «Gegenstandslosigkeit» zu einer Zeit, als ihre Generationsgenossen das figurative Malen beschwören. Nicht aus Opposition, sondern aus innerer Überzeugung steht sie quer zur Aktualität und wird dementsprechend verlegen wahrgenommen. Ihre Heftigkeit ist offenbar anders als  bei den Neuen Wilden. Lyrisch-abstrakt und deshalb «traditionsgebunden» kann man die Bilder kaum bezeichnen, und reine «Peinture» sind sie noch weniger. Energische Spontaneität mit intellektuellen Entscheidungen kombinierend, sprengt sie tatsächlich den Bildraum und vergleicht das Ereignis mit der Schlussszene aus dem Film «Zabriskie Point», wo «das Haus in die Luft fliegt und die einzelnen Teile sehr langsam herunterfallen.» Was bei Michelangelo Antonioni wie eine Elegie auf den schwindenden Geist der sechziger Jahre wirkt, verwendet die Schweizerin tatkräftig in einem positiven Sinn: Erst wenn die Fetzen der Seelenhaut weg sind, kann etwas Neues entstehen.

Fetzen

Fetzen, 1981, Acryl auf Leinwand, 245 x 145cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2019 / Foto: Jochen Littkemann

1982, zurück von einem Stipendienaufenthalt in New York, stellt Bignia Corradini bei Jörg Stummer als «Sterne sehen – Flecken» eine Serie von schwarzweissen Zeichen aus, welche die Tragfähigkeit der neugeborenen Bildsprache untersuchen: «Jeder Fleck muss Zentrum sein. Das Ganze muss Raum sein, offener Raum» – und auch «Ich will den Ozean, ich will Farbe und Licht – es kann nur gefährlich gehen.» Das Alphabet des sicheren Gefühls gibt ihr die Möglichkeit, aus leichten, manchmal nur geahnten Teilen ein fragiles Ganzes zu bauen und die Malerei stets als ein Wagnis zu erleben.

Flecken

 Sterne sehen – Flecken, schwarz und weiss. 
 Installation mit 700 «Flecken», Acryl auf Papier, A-4 Format, Galerie Jörg Stummer, Zürich 1982

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2019 / Foto: Bruno Hubschmid

 

Alle Kompositionsregeln sind vergessen, Angelerntes muss viel subtileren Erfahrungen Platz machen. Die Farbordnung steht kopf, und chromatische Valeurs wirbeln aneinander vorbei oder «kommen ins Schlamassel», bevor sie in einem seltsam prekären Gleichgewicht nur flüchtig Halt finden. Das Zentrum, um welches sich alles dreht, bleibt leer, die Energiequellen liegen ausserhalb des Rahmens und bestimmen dennoch die sich immer wieder steigernde und auflösende Spannung der Bildfläche. Das Bild, ein Vis-à-vis. Nur im Körperkontakt, durch ein behutsames Berühren und Betasten kann man sein Vorhaben erraten. Es will in die Welt gesetzt werden, unter welcher Gestalt, muss man ihm überlassen.

Aufschub

Aufschub, 1986, Acryl auf Baumwolle, 160 x 150cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2019 / Foto: Jochen Littkemann

 

Nach den Museumspräsentationen in Glarus (1983), Ittingen und Chur (1984) haben die letzten Ausstellungen in den Galerien Brigitta Rosenberg und Jörg Stummer (1985) wiederum bewiesen, dass solcher Launen und Stimmungen unterworfener Freimut einer ungemeinen Selbstdisziplin im Aushorchen bedarf. Nur deshalb kann Bignia Corradini auch die Dynamik ihrer Bilder genau benennen, ohne sich mit pathetischen Gleichnissen maskieren zu müssen. Sie macht «Peng» und «pack den Tiger», so einfach und sanft, dass er ihr seine Malkrallen schenkt.

Zürich, 1986

© Ludmila Vachtova, Zürich 

in: Kunst-Bulletin 12, Dezember 1986, Seite 8-11.

 

 

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