Elisabeth Grossmann

Bignia Corradini: Die unaufhörliche Neu-Entdeckung der Malerei

Rückblick auf die Jahre 1973 bis 2000

Bisher sind vier monografische Publikationen über Bignia Corradini erschienen, die letzte, Bignia Corradini. Arbeiten 1996–2000, im Jahr 2000. Die vorliegende Monografie ergänzt diese Reihe nun um einen kurzen Rückblick auf die Jahre 1973 bis 2000, während sich der vorhergehende Essay Die Felder der Malerei. Zu den Bildern und BildObjekten von Bignia Corradini bis heute von Sibylle Omlin mit der Werkentwicklung bis 2018 befasst, womit sich die Frage nach einem Gesamtbild stellt.

Wie entwickelt sich ein künstlerisches Werk über den Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten? Ist es von Auf- und Abbrüchen gekennzeichnet, von Widersprüchen und Verwerfungen? Oder besteht Übereinstimmung zwischen dem Früh- und dem aktuellen Werk, was etwa den Themenkreis oder den künstlerischen Ausdruck betrifft?

Mittelpunkt oder Essenz dieses Werks – Leinwandbild, Zeichnung und Objekt umfassend – ist und bleibt die gleichsam unaufhörliche Neu-Entdeckung der Malerei; sie ist das allumfassende Gefäß, welches die einzelnen Medien und Entwicklungsschritte zur Ganzheit zusammenfügt. Gibt es Zäsuren? Vielleicht eher Verlagerungen oder Ausweitungen, die sich unter dem Gesichtspunkt der Bewegung als eigentliche Konstante von den frühen figurativen zu den abstrakten Werken zieht; von den Frauenbildnissen der 1970er Jahre über die Flecken oder Sterne der 1980er Jahre bis hin zu den nachfolgend bildfüllenden Kompositionen, um sich ab 1992 in Erweiterung der Malerei vom Leinwandbild auf das Objekt und damit den Raum selbst auszudehnen. Es ist eine Art Springen und Laufen in dieser Malerei, ein Erregungsmoment, das sich aus dem Wechselspiel zwischen Aufnehmen und Transformieren, zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen persönlichen Lebensumständen und Gesellschaft durch das Gesamtwerk zieht.

1972 von Zürich nach Berlin gezogen, hatte Bignia Corradini während ihres Studiums an der dortigen Hochschule der Künste damit begonnen, sich intensiv mit der Malerei auseinanderzusetzen, vorerst mit den Motiven der Natur und der weiblichen Figur. Soeben hatte sich der in den USA entfachte feministische Kunstdiskurs auf Europa ausgedehnt und bewirkt, dass die Frage nach dem weiblichen Selbstverständnis respektive der weiblichen Selbstbehauptung bei vielen Künstlerinnen zum zentralen Motiv wurde. Wie aber dieses Thema angehen, ohne Gefahr zu laufen, ob der politischen Botschaft die künstlerischen Mittel aus den Augen zu verlieren? Bignia Corradini gelang dies, indem sie die Darstellung der Frau von Anbeginn mit dem Anspruch auf eine in sich gültige Malerei verband. Über den  erkennbaren Gesellschaftsbezug hinaus geht es in diesen Bildnissen vor allem um die Ergründung und Erforschung der grundsätzlichen Bedingungen der Malerei – und, wie u. a. Frauen XXX (Abb.) aufzeigt, um ein gleichbleibend zentrales Moment: Spannung, Energie, Umschwung und Bewegung. Der Bogen in den Händen der ›Amazone‹ ist aufs Äußerste gespannt, der Pfeil kurz vor dem Abschuss, ein Augenblick höchster Anspannung, der sich im Umriss von Figur und Grund in einer heftig ausholenden Pinselschrift niederschlägt. Noch handelt es sich um figurative Malerei, da wir uns einem gegenständlichen Motiv gegenübersehen. In der weitgehenden Verselbstständigung der Pinselschrift zeichnet sich jedoch bereits die einsetzende Hinwendung zur Ungegenständlichkeit ab: Bignia Corradini begann sich zum Noch-nicht-Gefassten vorzutasten.


»Frauen XXX«, 1976, Pastellkreide, Acryl auf Karton, 100 x 70 cm

»Frauen XXX«, 1976, Pastellkreide, Acryl auf Karton, 100 x 70 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jochen Littkemann, Berlin

Es war kein abrupter Wechsel, sondern ein fließender Übergang, der sich 1979, im Zeitraum von nur einem einzigen Jahr, abspielte. Der Vergleich zwischen den Frauenbildnissen wie etwa Sich ausziehen II (Abb.) und den non-figurativen Werken, u. a. Geburt (Abb.), desselben Jahres zeigt auf, dass beide nicht nur – welch ein Wagnis – das Großformat teilen, sondern dass Bignia Corradini ebenso Form- und Farbelemente wie Bewegungsstrukturen von den einen auf die anderen übertrug. Es seien eben diese späten Figurenbilder gewesen, welche sie zur Farbe hingeführt hätten, hält die Künstlerin fest. Noch ist die Farbgebung vergleichsweise verhalten, auf einzelne Blau-, Gelb- oder Rosatöne inmitten von vorherrschendem Weiß beschränkt. Doch lässt sich dies als Vorankündigung des wachsenden Farbbewusstsein verstehen, welches sich ab den 1980er Jahren geradezu explosiv artikuliert. Was die Formelemente betrifft, herrscht in den Werken des Jahres 1979 eine gewisse Schärfe vor, etwas Splittriges oder Scharfkantiges, eine Steigerung der Widersetzlichkeit, die insbesondere in den non-figurativen Werken zum Ausdruck kommt.

»Frauen XXX«, 1976, Pastellkreide, Acryl auf Karton, 100 x 70 cm

»Sich ausziehen II«, 1979, Acryl auf Papier, 213 x 100cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Jochen Littkemann, Berlin

 

»Frauen XXX«, 1976, Pastellkreide, Acryl auf Karton, 100 x 70 cm

»Geburt«, 1979, Acryl auf Nessel, 250 x 150cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Lepkowski, Studios Berlin

 

1980 jedoch, während eines sechsmonatigen Aufenthalts in New York, fand vorerst ein Rückzug statt: die Abkehr von der Farbe zu einem reinen Schwarz-Weiß und der Wechsel vom Großformat zur Arbeit auf Papier sowie vom Einzelbild zum Werkzyklus. Es war die Suche nach einer noch nicht fassbaren Form, die Bignia Corradini immer wieder zu dieser Beschäftigung zurückkehren ließ. »Sich einlassen auf Unbekanntes. Irgendwohin kommen, wo ich nicht im entferntesten dachte, jemals hinzukommen«, hielt sie tagebuchartig im Katalog zu Sterne sehen – Flecken, schwarz und weiß fest und fügte, über diese ihr unerklärliche Obsession geradezu bestürzt, andernorts hinzu: »Ich kann es nicht lassen, und ich hasse schwarz und weiß. Ich will ans Licht. Farbe und Licht.« Dass diese intensive Beschäftigung mit der Form – eher unwillentlich geschehend als willentlich gesucht – sich unmittelbar auf das kommende Werk auswirken würde, war ihr damals noch nicht vollends bewusst, auch wenn sie diese Arbeiten mit der Bezeichnung Übungen für die Bilder versah.

1982 stellte sie die in New York entstandenen Arbeiten auf Papier unter dem Titel Blätter wie Töne, Noten, Musik. Ein Alphabet in der Galerie Jörg Stummer, Zürich aus (Abb.). Die Inszenierung der insgesamt siebenhundert Arbeiten in den Ausstellungsräumen ließ geradezu physisch erfahren, wie sich von Form zu Form eine Struktur herausbildete, die sich eben im Sinne von einzelnen ›Tönen‹ oder ›Zeichen‹  allmählich zum Bild einer Ganzheit erschloss.


»Frauen XXX«, 1976, Pastellkreide, Acryl auf Karton, 100 x 70 cm

»Sterne sehen – Flecken, schwarz und weiß«, 1982,

Eine Installation mit 700 »Flecken«, Acryl auf Papier im A4-Format, Galerie Jörg Stummer, Zürich

 

 

Als ob erst diese Beschränkung auf Schwarz-Weiß die Farbe zum Erwachen gebracht hätte, trat diese ab den 1980er Jahren als der Form gleichberechtigtes Ausdrucksmittel auf – die eine ohne die andere undenkbar. Anfänglich dominierten in den vom Zeichenzyklus ausgelösten Formen, zu fliegenden Formationen zusammengefügt, vor allem Rot-, Blau- und Gelbtöne, sich von den weiß, schwarz oder farbig getönten Bildgründen abhebend. Mit der Erweiterung der Farbskala Mitte der 1980er Jahre ließ Bignia Corradini das Figur-auf-Grund-Prinzip hinter sich; die Form- und Farbakkorde wurden über das gesamte Bildgeviert ausgedehnt, um sich immer stärker zu einem erregten Stakkato zu steigern. Flecken-, Fetzen-, Splitterformen – von maisgelb über hellgrün, türkis, orange, blutrot, braun, grau zu weiß und schwarz, im steten Kontrast zwischen kalt und warm, zwischen dunkel und hell  – prallen in heftigen Wirbeln aufeinander. Wirbelfetzer, Chance, Schwindel II lauten unter anderem die von der Künstlerin – übrigens immer im Nachhinein vergebenen – Titel (Abb.). Aber was ist damit gemeint? Sie fungieren bis zum heutigen Zeitpunkt als eine Art ›Auffänger‹, indem sie im Wortlaut oder auch nur im Wortklang den Nachhall des Lebens heraufbeschwören, Reminiszenzen von Gesehenem, Gelesenem, Gehörtem, Geschmecktem, wie sie unaufhörlich in die Gedanken- und in die Bildwelt der Künstlerin eindringen.

»Frauen XXX«, 1976, Pastellkreide, Acryl auf Karton, 100 x 70 cm

»Schwindel II«, 1984, Acryl auf Leinwand, 230 x 170cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Jochen Littkemann, Berlin

 

»Frauen XXX«, 1976, Pastellkreide, Acryl auf Karton, 100 x 70 cm

»Chance«, 1984, Acryl auf Leinwand, 170 x 230cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Jochen Littkemann, Berlin

 

Im Jahr 1988, wiederum während eines Aufenthalts in New York, kam es zu einer weiteren konzentrierten Beschäftigung mit der Arbeit auf Papier, dies im Rahmen einer Begegnung mit der Kultur des Islam. Bignia Corradini war in New York auf ein Konvolut von Musterbüchern islamischer Ornamentik gestoßen, die sie zur Auseinandersetzung mit der eigenen westlich geprägten und der traditionell islamischen Kunstauffassung inspirierte. Das Übermalen von Musterbüchern umfasst achtzig Blätter, mit denen der Kontrast zwischen dem Eigenen und dem Fremden in wechselnden Modalitäten formuliert wird. In manchen Werken wird die auf mathematischen Grundlagen basierende islamische Schwarz-Weiss-Lineatur durch das Überkreuzen mit polyfonen Linienzügen umspielt, um auf anderen Blättern die formalen Gegensätze durch eine gestische Übermal-Spur hervorzuheben. Stets jedoch bleiben Partien der Vorlage so weit ausgespart, dass sich zwischen den zwei Ausdrucksmitteln eine dialogische Begegnung entfaltet (Abb.).

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»Das Übermalen der Musterbücher«, 23 x 18 cm

»Das Übermalen der Musterbücher«, Galerie Adrian Bleisch, Arbon, 2003

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Guido Kasper, Konstanz

 

Auch dieser zweite Zyklus hinterließ, wie schon der vorangegangene 1980, Spuren in der Malerei auf Leinwand. Jahre später, ab 2008, begann Bignia Corradini, ornamentale Strukturen dieser Art – wie etwa HCSIBARA und XIW aufzeigen – auf das Leinwandbild zu übertragen(Abb.).

 

»HCSIBARA«, 2008, Acryl auf Leinwand, ∅ 120cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Lepkowski Studios, Berlin

 

»XIW«, 2008, Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Lepkowski Studios, Berlin

1992, also vier Jahre später, setzte Bignia Corradini mit bemalten Wandobjekten, den ›Quadern‹, zu einer neuerlichen Verlagerung der Malerei an. Ihr Gedanke war, die bisher im Bildgeviert festgehaltene Malstruktur von der Fläche auf die dritte Dimension, den realen Raum, auszudehnen. So macht die Malstruktur nicht etwa auf der Vorderseite der Objekte halt, sondern setzt sich auf allen Seiten über deren Kanten und Ecken fort. Der Wechsel der Perspektive, den die Künstlerin dadurch erzeugt, wird durch die Art und Weise der Objektpräsentation um ein Mehrfaches gesteigert. So werden diese Werke nur ausnahmsweise einzeln ausgestellt, in der Regel jedoch zu einem sich über die gesamten Wandflächen bis zur Decke ausbreitenden ›Schwarm‹ vereint. Wie in der Ausstellung der 1980 entstandenen siebenhundert Papierarbeiten zu erfahren, bedarf diese Präsentationsform einer umfassenden Beweglichkeit des Blickwinkels. Möchten wir die sich über alle Seiten ausdehnenden Bewegungsverläufe auf den ›Quadern‹ selbst sowie jene, die sich zwischen den Objekten entspannen, ganzheitlich erfassen, lässt sich dies nicht aus dem Stand vollziehen, sondern einzig und allein dadurch,  dass wir uns selbst – in Entsprechung zu ihrer Wesensart – durch den Raum bewegen.

 

»Quader Prismen und Zylinder«, Galerie Adrian Bleisch, Arbon, 2003

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Stefan Rohner, St. Gallen

Seit diesem Jahr fügt sich die Beschäftigung mit dem BildObjekt – bis heute rund vierhundert an der Zahl – nahtlos an die Auseinandersetzung mit dem Leinwandbild an.Sosehr sich in der Wahrnehmung vorerst die einen von den anderen unterscheiden – hier die Bildfläche, dort der Bildkörper; hier das Einzelbild, dort der Schwarm –, sind sie bezüglich der Ausdrucksformen aufs Engste miteinander verbunden. Als sich gegen Mitte der 1990er Jahre Bignia Corradinis Malerei wiederum zu verlagern begann, manifestierte sich dies in beiden Medien zugleich. Wirbel und Knäuel wurden allmählich zu ausholenden Farbbahnen gedehnt, Bewegung und Gegenbewegung – Urgrund von Bignia Corradinis Malerei – stoßen bald fließend, bald stockend in breit angelegten Pinselzügen auf- und übereinander (Abb.). Und dies wird, wie die Weiterentwicklung bis 2018 aufzeigt, neuerliche Verlagerungen, Verdichtungen und Verwebungen nach sich ziehen.

»Ort der mögichen Verschiebungen«, 1997, Acryl auf Leinwand, 140 x 170cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Jochen Littkemann, Berlin

»Regellos und Abweichung«, 1993, Acryl auf Leinwand, 170 x 150cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Jochen Littkemann, Berlin

»Zusammenschluss I«, 1998, Acryl auf Leinwand, 170 x 150 cm

© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2022 / Foto: Jochen Littkemann, Berlin

 

Stillstand? Den gibt es im Werk von Bignia Corradini nicht. Ob in der ursprünglichen Definition oder bis an die Randzonen ausgedehnt wird die Malerei, das ›Wie‹ und das ›Was‹, in großen Bögen umrundet. Dies ist es, was Bignia Corradini seit den 1970er Jahren dazu führt, sich immer aufs Neue der Neu-Entdeckung der Malerei zu stellen.

August 2018
© Elisabeth Grossmann, Aarau

in: ›Bignia Corradini: Malerei  I  Painting  2000 – 2018‹ 
KERBER VERLAG, gebundene Ausgabe: 232 Seiten, 2018, 174 Farbabbildungen.

 

 

Elisabeth Grossmann,*1947 Basel. Studium der Kunstgeschichte, Volkskunde und Ethnologie in Basel, München und Zürich. Nach Tätigkeiten in verschiedenen Institutionen (u.a. Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft Zürich, Museum für Gestaltung Zürich, Fondation Le Corbusier Paris) Direktorin des Kunstmuseums des Kantons Thurgau Kartause Ittingen, Warth, des Museums Haus Konstruktiv Zürich sowie des Museums Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen, vorwiegend über die Kunst der Schweiz.

 

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