Christian Bertram
Im Reich der Farben
Zur Farbmalerei Bignia Corradinis
1991 - 2001
»Nichts ist versteckt. Alles
liegt vor unseren Augen.«
Ludwig Wittgenstein
Seit Beginn der Achtziger Jahre überrascht Bignia Corradini immer wieder mit ihren unverwechselbaren Leinwandbildern und gewährt essentielle Einblicke in eine Welt dynamischer und farbenreicher Konstellationen. Zu ihren jüngeren Arbeiten gehören neben den Bildern auch Objekte - die Sammlung der »Quader«. Sie alle veranschaulichen die Intention der Malerin, dem freien Spiel der Formen, Farben und Strukturen in ihrem Schaffen Platz einzuräumen. Ihre künstlerische Recherche steckt dabei in ihrer Komplexität voller ungreifbarer Anspielungen auf Unsichtbares, das dazu auffordert, die Aufmerksamkeit nicht nur auf das äußere, sondern auch auf das innere Bildgeschehen zu lenken - auf das, was sich ereignet im Bild und »wie« dies geschieht.Denn Bignia Corradini ist keine Malerin des Mangels und des Leidens, sondern der Fülle und des Reichtums. So sehr sich ihre Kunst einer vordergründigen Auslegung entzieht, so sehr sie die Kritik und Interpretation hinter sich läßt, so sehr bedarf es offensichtlich einer engeren Verbindung zu den Dingen, zum Geschehen. Wir müssen die Bilder Bignia Corradinis aufmerksam lesen, müssen sie mehrmals lesen, um sie in der Alchimie und Vielfalt der Bedeutungen erfassen zu können. Dies gelingt am ehesten in dem Augenblick, da sie uns zu entschwinden drohen. Im Moment der Stockung, da sie uns entgleiten und sich in heimlicher Erhebung aufmachen. Und erinnern wir uns Sokrates’, der, um den Vorrang des Malers vor dem Denker zu bezeugen, bemerkte, die Bilder bedürften der Deutung nicht mehr.
Zirkulation des Begehrens
Selten kann man sich dem Eindruck entziehen, dass von den farbigen und strengen Konstruktionen Bignia Corradinis eine schöpferische ansteckende Kraft ausgeht. Ein Überschuss an Lust, ein Surplus an ursprünglichem Begehren verbunden mit einer gewissen Nüchternheit und Gelassenheit lässt die Dinge zusammenstoßen, kollidieren, übereinanderstürzen oder kippen. Ein Aufruhr, der an- und übergreift, der anschwillt, gleich einem fernen Echo Homerischen Gelächters, das sich nicht offenbaren, das nicht enden will. Die Elemente in ein spannungsreiches Verhältnis zu setzen, sie aufzulösen, zum Fließen zu bringen und auf einer höheren Einheit zu einem Energiestrom zu bündeln, darauf kommt es Bignia Corradini an. Wobei die Malerin es versteht, im rechten Moment, da eine Markierung gesetzt ist, abzubrechen und zu einem anderen Segment, einer nächsten Einheit überzugehen. Nicht die Frage der Bedeutung steht hierbei im Vordergrund, nicht die Frage nach dem, was darzustellen ist, sondern die nach der Methode, die entscheidende Frage des »Wie«: Wie komme ich von einem zum anderen, wie komme ich zum nächsten, wie verbindet sich dieses Gelb, wie schlägt es um, wie verwandelt es sich in dieses Rot. So artikulieren auch Titel wie »Die Tatsachen bewegen«, »Verknüpfungen«, »Einen Umweg gehen«, »Koordinieren«, »Zusammenschließen«, »Sprunghaft fortsetzen«, »Überbrücken« den Wechsel von diesem zu jenem, von Vorgängen, Haltungen und Verfahren, die definiert und gebündelt auf ein Geschehen, auf ein Ereignis ausgerichtet sind: das der reinen Präsenz der Erscheinung.
In diesem »Wie« spiegelt sich das ganze Begehren, die ganze Lust des energetischen Schaffens Bignia Corradinis im Sinn einer übergreifenden Arbeit, nämlich nicht-geregelte Regeln zu erfinden, - was heißt, das was da ist, was sich zeigt, ohne Absicht oder System aufzurufen. Ein risikovolles Unternehmen, das oft bis an den Wurzelgrund reicht, wo sie zu der allerersten Frage von Kunst zurückkehrt, sich ihr aussetzt: Wie soll ich malen? Eine schöpferische Frage, an die sich die jeweils nächste anschließt: Wie komme ich darüber hinaus, wie breche ich von hier auf, um da anzukommen? Etwas hinter sich lassend, stets auf das Nächste hinweisend und anspielend, lässt sie die chromatischen Energien im Bildfeld transformieren, herumirren und zirkulieren, solange, bis »die Wechselwirkungen, die Verbindungen, durch das ganze Bild hindurch in alle Richtungen und in den Raum hinein einen bestimmten Spannungsbogen schaffen« (BC).
Lust und Begehren ordnen sich, kraft ihrer Vielfalt und Verstreuung, immer auf etwas Neues gefasst.
Chaos-Studien
Strahlend und stumm zeigen sich die Tafeln in eigenartiger Immanenz, in einer Art verewigten Aktualität. Ordnung und Unordnung, Gesetztes und Zufälliges, Organisation und freies Spiel, Formgebung und Zweckentbundenheit bedingen sich gegenseitig und werden auf einer höheren Ebene produktiv. Eine Ahnung von etwas Ur-Ursprünglichem stellt sich ein, von einer Genealogie der Farben, die sublim und verschämt einem älteren Geschlecht zu entstammen scheint. Dem großen Durcheinander? Dem reinen Schöpfungsakt? Seinem Widerschein?
Aberration: Im Anfang war die Farbe, und die Farbe im Licht. Nicht das Wort, nicht die Gebärde, sondern das Auseinandertreten der Materie im reinen Schöpfungsakt. Der Geist bewegt, durchdringt alles, affiziert ohne selbst affiziert zu werden, und seine Bewegungen sind paradoxal. Die höchste Harmonie seines Strebens versucht den Widerspruch aufzuheben im Absoluten, zum Ur-Einen zurückzukehren aus dem es hervorging. Jedoch auch dies nur, um die Materie erneut im ständigen Wechsel von Mischung und Ent-Mischung auseinandertreten zu lassen.
Die Fragmente des Anaximander von Milet und des Anaxagoras von Klazomenei (um 500 v. Chr.) berichten von der Erschaffung des Alls im Taumel der Vorgeschichte. Anaximander sprach von der Erhabenheit des Unbeschränkten, »denn es schließe alles in sich ein«: »Quelle und Wesen des Seienden ist das Unbegrenzte, immense Unbestimmte, aus dem die Elemente im Widerstreit und Kreislauf der Dinge entspringen«. Der zweite, Anaxagoras, schaffte das Entstehen ab und führte statt des Entstehens die ‘Differenzierung-durch-Trennung’ ein: »Er sagte nämlich in naiver Weise, dass alle Dinge miteinander gemischt seien und sich im Wachstum differenzieren«.
Differenzierung und Entmischung kennzeichnen die Welt des Werdens, die in ständigem Wandel und Prozeß begriffen nicht im Gleichgewicht ist, sondern im fortgesetzten Ungleichgewicht der Veränderungen. Das Verhältnis Geist-Materie bestimmt, wie die Gegensätze zueinanderstehen, und bildet das Gesetz, nach dem sie einander ablösen. Es ist die dynamische Größe, die alles Geschehen entscheidet: das Auseinandertreten der Elemente in fortschreitender Bewegung, ihren Wandel und Übergang sowie den Rückzug und Zusammenschluss zu neuen Einheiten im bewegungslosen Sein.
Chaos als Organisationsform finden wir sowohl in der universalen oder kosmischen RaumZeit wie im ZeitRaum der Kunst. Mensch und Künstler sind selbst Teil ein und desselben dynamischen Prozesses der Selbstorganisation, Selbstwerdung und Selbstauflösung im Wechsel von Sich-Verändern und Sich-Bedingen. Ungleichgewichte und Instabilitäten führen Unsicherheit und Unberechbarkeit mit sich, sind aber gerade dadurch die treibenden Kräfte im offenen System des Unbestimmten, sind schöpferisches und gestalterisches Prinzip einer Kunst, wie wir sie auch in Bignia Corradinis Malerei wiederfinden. Die Balance finden oder halten, das sind für sie »Widersprüche, worin mehreres enthalten ist: ein Paradox.« Ein vielfaches Kippen, Wandeln, Stoßen und Umschlagen, eine dynamische Ordnung permanenter Schwingungen, die sich in zahllosen Kollisionen strukturiert und ebenso unberechenbare wie organisierte Figuren ergibt. Ob die Bahn einer Billardkugel oder der Flügelschlag eines Schmetterlings, das Chaos verschwindet nie und ist nie verschwunden, sondern wirkt untergründig als umgeschlagene Wirklichkeit.
Wirbel des Beziehungsgeflechts
Die Selbstorganisation des Bildraumes als Träger von Diskontinuitäten weisen Bignia Corradini als Malerin des Unbestimmten, eines kalkulierten Chaos aus, womit sie sich zugleich selbst in den Ursprung und den Beginn jedes künstlerisch-schöpferischen Tuns hineinstellt, hineinbegibt : »Da ich nicht 'über' einer Sache stehe, sondern darin, also aus der Mitte einer Bewegung heraus arbeite, versuche ich alles anzunehmen und damit umzugehen«. Und an anderer Stelle sagt sie: »Eine Offenheit haben für das, was da kommt. Dem folgen, was sich zeigt. Wesentlich ist, dass ich beim Malen nicht weiß, wohin sich ein Bild entwickelt. Es soll mich überraschen«. Ihre Suche gilt nicht der Regelmäßigkeit, wie sie sich in den Normen und Ordnungsvorstellungen der klassischen bildnerischen Ästhetik ausdrückt, die das Irreguläre an die Ränder verbannt, an den Anfang und das Ende stellt oder es auszuschließen sucht. Bignia Corradini öffnet das Kunstwerk der immensen Unordnung, der Unschärfe, den Perturbationen und Rotationen, dem Wirbel des Beziehungsgeflechts und dem gesamten Komplex dynamischer Prozesse, weil darin alle Potentialitäten angelegt sind und sich nicht zuletzt diese reine Potentialität mit ihrem eigenen Körper verbindet: »Das Unbändige unterläuft mir. Die Unberechenbarkeit bezeichnet einen Bruch und er ist die Folge von Auflösung einer Ordnung. Der Bildzusammenhang entsteht aus dem Unstimmigen und dem Unverbundenen«, wie die Malerin die Auflösung der Widersprüche beschreibt.
Inmitten des Unbestimmten
»Wir sind von Chaos umgeben. Wir müssen das Chaos hineinlassen, wollen wir nicht untergehen.« Amerikanische Künstler wie John Cage haben früher als europäische überschreitende Verbindungen zum Universalen hergestellt. Für Barnett Newman, den Klassiker der amerikanischen Farbfeldmalerei, war das Chaos »Das Sujet der Schöpfung« schlechthin. Die amerikanische abstrakte Malerei beginnt, so Newman, »in der Regel mit dem Chaos der reinen Phantasie und des reinen Gefühls, das heißt mit nichts, was auf physikalische, visuelle oder mathematische Gegenstücke verweist« und bringt »aus dem Chaos der Emotionen Bilder hervor, die diesem Unfaßbaren Realität verschafft«. Im Unterschied zur Abstraktion in der traditionellen europäischen Moderne verfolgt die amerikanische Malerei »nicht die Transzendenz der Dinge, sondern die Realität der transzendentalen Erfahrung«. Schöpfung ist demnach eine Anspielung auf etwas eigentlich Undarstellbares. Sie ist »das Augenblickliche des Unbestimmten, mitten im Unbestimmten«. Nicht, wie gemeinhin verstanden, »der Akt von jemandem, sondern die Tatsache, dass es mitten im Unbestimmten geschieht«, wie es der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard formulierte: »Das Geschehen, von etwas ... nicht das, was geschieht«.
Rückte die amerikanische abstrakte Malerei die Ungreifbarkeit des Augenblicks ins Zentrum des künstlerischen Schaffens, so knüpft Bignia Corradini mit ihrem intuitiven, direkten Malen an diese Auffassung an, ohne jedoch die europäische Tradition aufzugeben. Auch ihre Kunst artikuliert sich expressiv-subjektiv und ist unweigerlich mit der Bearbeitung des Chaos beschäftigt, sie nimmt es auf und macht es zum thematischen Gegenstand. Angelegt in einem Bereich zwischen Nichts und Geschaffenem, einem azentrischen Universum, haben ihre Bilder weder einen Raum- noch einen Zeitmittelpunkt. Es handelt sich vielmehr um einen in all seinen Punkten gleichwertigen Bildzeitraum, hinter und in welchem ein Raumenergiefeld von homogener Unermeßlichkeit und Unbestimmtheit arbeitet. Bewegung ist dabei das Grundprinzip, der Grundcharakter und zwar auf allen Ebenen: »Ich möchte etwas beweglich halten. Freier Raum. Offener Raum. Weiter Raum.« (B.C.). Der ruhende Mittelpunkt ist eliminiert oder vielmehr: alles ist Mittelpunkt von allem. Zeit hat sowohl den Charakter einer unendlichen Ausdehnung wie aufdringlicher, atmungsaktiver Dichte, wobei wir auch hier mindestens drei Zeitebenen wahrnehmen: die der symbolischen Zeit, die der imaginären Zeit und die der realen Zeit. Ebenen, die sich folglich nicht als Kontingenz in der Einmaligkeit eines einzelnen Gemäldes geben, sondern als Vielheit wiederkehren, als ins Unendliche denkbarer und fortsetzbarer, das Gleiche oder Ähnliche wiederholender Variationsprozeß: als Metamorphose einer komplexen Gegenwart.
Aktivierung des Geistes
Dezentral, nicht auf ein Zentrales ausgerichtet, blendet diese Malerei nicht die Ränder und Unschärfen aus, sondern erweitert das Wahrnehmungsfeld unseres Sehens. Was unseren dressierten, auf das zentrierte, fokussierte Sehen ausgerichteten Augen mit ihren gekrümmten Rändern an Sichtbarem verborgen bleibt, was wir mit Ungewißheit und Vertrauen auf die Unerschöpflichkeit erwandern müssen, wobei wir Vorhergehendes und Nachfolgendes gedanklich, synthetisch und analogisch einbeziehen, ist auf der Leinwand in der gleichwertigen Komplexität seiner Raum-Zeitlichkeit da. Die Chaosstrukturen mit ihren paradoxalen Operationen suspendieren die eingeübte Intentionalität des Geistes. Jedoch nicht um ihn stillzulegen, sondern zu aktivieren: indem sie dem Geist keine Regeln vorgeben, ihn eben nicht lenken, sondern ihn loslassen und ihm eine Lichtung verschaffen, ein Quasi-Vakuum, durch welches sich unsere Sinne, unser Empfinden, unsere Wahrnehmung als eigene Körpererfahrung erst schöpferisch konstituieren können.
Kosmogonie der Farben und der Dinge
Jedes Bild Bignia Corradinis ist zugleich Öffnung und Aufschluss, Reduktion, Ein- und Verklammerung, Versiegelung und Fragment einer ganzen farbigen Kosmogonie. Alles gehört zu allem. Alles ist da. Alles entspringt dabei dem gleichen, inneren Zusammenhang, wobei das einzelne Segment selbst eine organische Einheit bildet, so wie das gesamte Bild in seinen differenzierten Positionen, Optiken und Diskontinuitäten als beweglicher Träger fungiert.
Mit jedem Bild enthüllt uns Bignia Corradini einen Ausschnitt aus dem Reich der Farben, das wir uns als gegebenes vorstellen müssen. Es existiert ohne uns wie der Indische Ozean, die Milchstraße oder Bernhards Pfeilstern, von dem wir wissen, dass seine Radialgeschwindigkeit, mit der er sich der Erde nähert, -108km/s beträgt. Wie solche Sterne geben sich uns die Farben nicht menschlich, sondern dinglich. Die ›Farb-Dinge‹ tauchen auf, affizieren unsere Gefühle, »um zu zeigen, dass sie existieren« (Françis Ponge)
Das große Blau, das verschattete Grün, das eklatante Rot oder das Corradini-Gelb (das sich öfter zeigt) künden nackt, unpersönlich, ohne Bewußtsein oder Idee, ohne Bezeichnung nichts bezeichnend, in ihrer Gesamtheit vom Dasein aller anderen Farben, die verborgen sind und noch zu entdecken bleiben. Was im Bildausschnitt erscheint, ist jenen bunten Fischen vergleichbar, die der Schiffsreisende unter der Wasseroberfläche erhascht, und die gleichwohl die Existenz des ganzen, riesigen Schwarms bezeugen. Françis Ponge spricht, auf Worte bezogen, von einer Gesamtheit von Schlüsseln, die uns andere Schlüssel erschließt. Ich würde von einer Versammlung von Farben sprechen, von einer Phantommasse, die - jeweils anderswohin unterwegs - im Geviert eines engen Feldes zusammentritt und für nichts anderes steht als die chromatische Materie selbst.
Farben in ihrem Wirken und Sein
Der wesentliche Unterschied, der besondere Wert der Komposition eines Bildes gegenüber dem Nach-und-Nach der Worte, die einen Text bilden, besteht darin, dass seine verschiedenen Elemente gleichzeitig, nebeneinander-ineinander koexistieren: »Das, was sich anschickt, Platz zu nehmen, das, was den Platz eingenommen hat, und das, was den Platz gerade einnimmt«, wie es der französische Künstlerphilosoph Pierre Klossowski in Anbetracht seiner eigenen Zeichnungen beschreibt. Was unter diesem Aspekt in Bignia Corradinis Bildern auf verschiedenen Zeit- und Raumebenen zusammenagiert, sind vor allem chromatische und kinetische Kräfte, Energien, die in hoher Verdichtung, in hohen Potenzen, ineinanderwirken in einer Weise, dass es fast unmöglich scheint zu entscheiden, welcher dieser Energien dabei die dominierende Rolle zufällt: ob, wie in dem Bild »Essenzen«, den Farben Hellblau, Weiß, Gelb und Gelb-Ocker oder aber den anschießenden, strahlungsartigen Bewegungs- und Oberflächenstrukturen.
Natürlich aber ist es die Gesellschaft der Farben, die als primäre Qualitäten in Bignia Corradinis Bildern zur Geltung gelangen. Denn Malen heißt, wie der französische Philosoph J.F. Lyotard sagt, zuerst, »Farben, Pigmente einschreiben, chromatische Einschreibungen vornehmen, hervorbringen.« Bignia Corradini, die ›Farbstellerin‹, definiert über die Farben das Bild:
Verschiedenartige, vielgestaltige Formationen, Farbgebilde, die nicht unbedingt neu sein wollen, es aber jeweils wieder sind, den Bäumen, den Wolken ähnlich (die übrigens auch keine Ideengebilde sind). Im Sinne einer reinen Malerei setzt sie die Farben frei - Farben als selbständig wirkende Dinge, die eine Fläche erobern und sich jedweder Form und Figur, jeder Intrige entwinden. Als seien sie - wahnsinnig - einem Ausschluß entkommen. Farben in ihrer Flüssigkeit oder Erstarrung, in ihrer Zeitlichkeit und Erhabenheit. Farben in ihrer Tatsächlichkeit und phantastischen Wirklichkeit. Farben in ihrem wesentlichen Wirken und Sein. Farben – Versuchung der Materie, die sich auf sich selbst beruft. Farben, die uns keine Fragen stellen und keine Antwort geben. Farben, die mehr wissen als wir.
Die Farben treten bei Bignia Corradini als Gegenstände dinghaften Charakters auf, mit denen sie abstrahierend, formulierend, verknüpfend umgeht. Aber nicht nur die Beachtung ihrer physiologischen Wechselwirkung im Aufbau, der Umgang mit der substantiellen Kraft der Farben, die Respektierung des Eigenwerts und der Eigenbewegung der Materialien, – ich möchte sagen ihres Eigenlebens –, weisen Bignia Corradini dabei als gegenständliche Malerin aus. Sie gibt nicht nur den Farben, sondern auch ihren eigenen Gedanken und Empfindungen die Stellung eines Gegenstandes. Das Denken selbst und seine Herausbildung findet in der Malerei Bignia Corradinis zu seinem Ausdruck und bleibt nicht hinter dem Bild verborgen.
So entsteht eine Malerei, die durch einen intellektuellen Inhalt Gefühle erzeugt und, dem Leben und seinen Beziehungen zugewandt, dieses Denken ins Leben hineinstellt.
Wie man Intensitäten schafft
Nach den Gesetzen einer affirmativen Ästhetik, die »ja« sagt zu den Dingen, »ja« zu den Farben, kann es für Bignia Corradini keine Alternative sein, die Leinwand zu entleeren. Sie nimmt vielmehr in einer Art lyrischer Abstraktion eine Verschiebung vor, in dem sie ihr eine eigene Beweglichkeit, eine eigene Körperlichkeit zurückzugeben sucht. Bei ihren großen Formaten wird die Leinwand zum offenen Träger einer Versuchsanordnung, deren Ausdruck die Farben selbst sind und die jeweilige Konfiguration, die sie zueinander einnehmen. So legt Bignia Corradini die Voraussetzungen, um Intensitäten zu schaffen, wobei sie selbst sich in die Position einer Operateurin begibt, die zuläßt, unterbricht, verwirft, wartet..., wartet..., übermalt und anderswo wieder beginnt. Eben experimentell in dem Sinne, dass es immer - nach und nach - etwas zu entdecken gibt, dass man warten muß, um etwas zu finden und zu entscheiden. Von kleinen Zellen und Einheiten arbeitet die Malerin sich vorwärts, oft im Gestrüpp einer Undurchdringlichkeit, mit dem Ziel, zu möglichst intensiven, intensitätsstiftenden Aussagen und Konstellationen zu gelangen.
Den Gesetzen der Abstraktion, des Abziehens und Aussonderns, folgend, entstehen Konsiderate, Felder und Segmente. Sie versteht es, das verborgene Material zu heben, immanente Farb- und Bildräume zu erschließen, die Erscheinungen zu aktivieren, die Dinge, die Farben sehen zu machen, ins Geheimnis ihrer Sprache einzudringen. Nichts ist dabei selbstverständlich, nichts ist vorgestellt. Keine Idee, kein vorgefaßtes Projekt überlagert den konstanten Prozeß ihres Tuns, sondern das Verlangen, Energien ins Fließen zu bringen: »Wie wirkt eine Farbe und wie weit und wie stark ist ihr Energiefeld? Mit Farbe eine Energie freisetzen heißt auch eine Energie potenzieren. Widersprüche so weit treiben, bis sie in Energie umschlagen.« Solcherart differenziert und definiert Corradini den Bildraum neu aus: über Einheiten und Verläufe, die über- und ineinandergreifen, sich überlagern oder gegenstrebig fügen, um den Druck, die Überschußenergie zu entladen, Affekte zu produzieren, Serien von Affekten und energetischen Strömen; Lichtblitze einer farbigen Spektralogie, die einem Absoluten, einer umfassenderen Einheit und Kosmogonie entstammt.
Die Lust am Bild: Eine Lektion der Farben
Bignia Corradini malt nicht aus der Position eines überlegenen Wissens heraus, im Gegenteil: Die Lust zu sehen und zum Sehen zu verhelfen geht bei ihr einher mit einer entdeckerischen Lust. Jede ihrer malerischen Gesten ist auf Entdeckung ausgerichtet. Bignia Corradini gehorcht der unberechenbaren Präsenz der Farben, um überrascht zu werden und selbst überraschen zu können.
Denken Sie sich, Sie betrachteten die Bilder ohne sich. Das gelingt natürlich nur teilweise. Aber diese Zurücknahme, diese Substraktion des Bewusstseins und Entwaffnung des Geistes, dieses »Ausruhen von uns selbst«, wie Friedrich Nietzsche es nannte, lohnt sich. Führt sie doch, neben der Möglichkeit, über uns selbst zu lachen, zu einer verstärkten materiellen, physischen Präsenz der Erscheinungen. Lassen wir unsere Augen wandern, oder, konsequenter, nehmen wir den Standpunkt der Farben ein, um zu einer gegenwärtigen Erfahrung von ihnen zu gelangen. Sehen wir davon ab, einem möglichen ›Vorhaben‹ der Malerin nachzugehen, welches ein unmittelbares Erfassen nur unterdrücken würde. Sehen wir, lernen wir - und das ist die Lektion der Farben - sie wieder in ihren elementaren Eigenschaften zu sehen, in ihrem eigenen Ausdruckswillen, den sie mit den anderen Dingen - Bäumen, Tieren, Menschen - teilen. Lassen wir uns von den Farben unterweisen.
Lassen wir sie erneut eindringen und erfassen wir sie in ihrer merkwürdigen Moralität, ihrem seltsamen Gebaren, ihrer eigenen Sozialität und ihrem Widerstreit.
Tun wir den Farben gegenüber so, wie Françis Ponge es gegenüber den Worten vorschlägt: als wüssten wir nichts, ja, als wären die Farben uns unbekannt, als würden wir sie entdecken in erstmaliger Schau, erblicken in der Differenz, ihren Ähnlichkeiten und ihren Unterschieden, ihren Nachbarschaften und Kollegialitäten, in »Verwandtschaft und Gegensatz« (Ludwig Wittgenstein).
Affirmation des Lebendigen
In Kunst und Literatur - und nicht nur dort - ist die Fruchtbarmachung und Einbeziehung des Chaos eng mit der Frage einer neuen Weltschöpfung verbunden. Nach den Vernichtungen des letzten Jahrhunderts, der sogenannten ›Weltnacht‹, galt es nicht nur in der Literatur einen Nullpunkt festzustellen und zu überwinden. Barnett Newman wies wiederholt darauf hin, wie aussichtslos und verzweifelt die Lage der Künstler in Amerika nach dem zweiten Weltkrieg war, stellte sich doch die Frage nach Neubeginn und Anknüpfung an Verlorenes. Unter diesem Aspekt gesehen bewegt sich Bignia Corradini mit ihrer Malerei im Dreieck von Notwendigkeit, Zufall und Schicksal, Freiheit und Neubeginn von Geschichte auch in Richtung einer eigenen Aussagekonzeption. Mit ihrer physischen wie meta-physischen Malerei, gleitend zwischen Sinn und Nicht-Sinn, Wissen und Nicht-Wissen, erteilt Bignia Corradini einer deterministischen Weltschematik, die dem Prinzip von Ursache-Wirkung verhaftet bleibt, eine Absage und versucht in die Geheimnisse des Lebens einzudringen. Ihre Bilder werden dafür zu abstrakten Symbolen, die sie aus der reinen Sprache der Malerei holt, indem sie den Farben, den Bildelementen und letztlich dem Betrachter die jeweilige Autonomie zurückgibt.
Zugleich sprechen uns ihre Bilder mehrere Aufforderungen zu. Eine der wichtigsten ist vielleicht diejenige, die Farben, ihre Selbstgenügsamkeit, ihrem An-sich-Sein, uns zurufen: »Sei, wie du bist!«. Zu dieser, den Dingen eigenen, Aussage bemerkte Jean-Paul Sartre, dass sie »mit unserem geheimen Wunsch korrespondiert, endlich an-sich zu existieren«. Einem Wunsch, von dessen Einlösung wir heute weiter entfernt sind als je zuvor, zu dem wir gleichwohl immer wieder zurückkehren. Wobei es, so Sartre, »weniger darum geht, neue Gefühle zu erlangen, als unser Menschsein zu vertiefen«. Man könnte hinzufügen, es wiederzuerlangen.
Mit ihrer ›Phänomenologie der Farben‹, die sie als leibhafte Elemente für einen Augenblick zusammen auftreten lässt, vermittelt uns Bignia Corradini dieses affirmative Gefühl des Daseins und eines »Ja-Sagens-zu sich selbst«. Was wir in ihren Bildern finden, das sind wir selbst, auch wenn wir nicht wissen, wen sie eigentlich meinen. Bignia Corradini jedenfalls, da bin ich mir sicher, möchte uns fast nichts, fast nichts, anderes sagen, als das.
Literatur:
Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire, in: Gesammelte Schriften I/2; Frankfurt/M. 1974
Cage, John: Silence; Frankfurt/M. 1987
Celan, Paul: Engführung in: die Niemandsrose, Gedichte; Frankfurt/M. 1986
Küppers, Günter (Hrg.): Chaos und Ordnung, Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft; Stuttgart 1996
Lyotard, Jean-François: Intensitäten; o.A. Berlin
Ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik; Berlin 1982
Ders.: Das Inhumane, Plaudereien über die Zeit; Wien 1989
Mansfeld, Jaap (Hrg.): Die Vorsokratiker, S.69ff. sowie S. 521ff, Stuttgart 1987
Newman, Barnett, Schriften und Interviews 1925–1970; Bern–Berlin 1996
Ponge, Françis: Einführung in den Kieselstein u.a. Texte; Frankfurt/M. 1986
Sartre, Jean-Paul: Der Mensch und die Dinge, Reinbek bei Hamburg 1978
Schelling, F. W. J.: von der Weltseele (1798); Werke Bd.1, Leipzig 1907
Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Farben, in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt/M. 1992
Ders.: Tractatus logico-philosophicus; Frankfurt/M. 1980
© Christian Bertram, Berlin
in: Bignia Corradini: Arbeiten 1996-2000, G+H Verlag Berlin, 2000, 100 S., 66 Farb-Abb.
CHRISTIAN BERTRAM
geboren 1952 in Berlin. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften und Geschichte. Anfangs künstlerischer Leiter verschiedener Freier Gruppen. Ab 1979 freier Regisseur. Theaterarbeiten u.a.: Der Brotladen (B. Brecht), Der herrliche Hahnrei (F. Crommelynck), Weltuntergang in Berlin (L. Trolle), Medea (P. Corneille), ZIW, jenes Licht (Paul Celan). Mit der Inszenierung von Samuel Becketts Mercier und Camier 1982 ausgewählt zum Berliner Theatertreffen. Gastspiele mit dieser Inszenierung und Becketts Ohio Impromptu im In- und Ausland. Filmarbeiten, Fernsehaufzeichnungen sowie Hörfunkproduktionen mit Texten von Cummings, Duras. Lowry, Genet, E. Jünger, Rilke und Mallarmé sowie szenische Lesungen von literarischen und philosophischen Texten. Vorträge, Übersetzungen und Veröffentlichungen, so zum Werk von Heiner Müller (Vom Abbild- zum Versuchsfeld), Pierre Klossowski (Die Wiederkehr des Bildes), Herman Melville (Zum Beispiel Bartleby).