Elisabeth Grossmann
azyklisch
Rede zur Eröffnung der Ausstellung am 2. April 2009. Clariden Leu AG, Zürich
Sie heißen "Tacet", "sprunghaft fortsetzen", "Antro", "Phasmiden", "Preziosen" , "Epiphyten" oder "HCSIBARA" und lassen, sofern man die Werke nicht vor Augen hat, vorerst keine gültigen Schlüsse zu, weder was ihren Inhalt noch ihr Aussehen betrifft. Sie stammen aus rund 15 Jahren künstlerischer Tätigkeit, sind rechteckig und rund wenn als Leinwandbilder ausgeführt, scheibenartig, kugelförmig, kubisch oder vieleckig im Objektbereich, unterschiedlich in Farbklang, Format und Gestus und dennoch gekennzeichnet von einer durchgehenden Handschrift: derjenigen der Malerin Bignia Corradini. Denn es geht hier grundsätzlich um Malerei und nichts anderes als Malerei und das bereits seit mehr als dreißig Jahren.
Corradini war in den 1970er Jahren mit ihren Bogen spannenden Frauenfiguren an die Öffentlichkeit getreten, gegenständlichen Werken, deren gestische Anlage, bereits davon kündeten, dass es weniger um ein Abbild der Wirklichkeit ging, als darum, das Medium Malerei elementar zu untersuchen. Die heftigen Pinselspuren, welche die Frauenfiguren der 1970er Jahre umrissen hatten, begannen sich über die Jahre hinweg zu verselbstständigen, die äußere Wirklichkeit trat in den Hintergrund, um allenfalls als Echo im Werk der Malerin zu erscheinen. Echo wovon? Im weitesten Sinn als Nachhall der Großstadt Berlin, in der Corradini seit 1972 lebt und deren kontinuierlichen Umbruch sie täglich verfolgt. Eine Stadt der Unruhe, ein Ort permanenter Wandlung, der sich als idealer Umraum für die Erforschung und Untersuchung der Malerei erweist.
Stillstand ist nicht erwünscht: das Suchen, Tasten, Erforschen, Verwandeln und Umsetzen sind Attribute des Fließens und diese sind es, welche den Urgrund von Corradinis Malerei bestimmen. Das erstreckt sich konsequenterweise auch auf ihre Arbeitsmethode. Stets sind mehrere Werke zugleich im Blickwinkel, sie arbeitet an mehreren Werken und Formaten zugleich, wendet sich pausierend einem anderen zu, unterbricht, betrachtet, fährt fort, willentlich formend und unwillentlich geschehen lassend, bis die Werke jenen Zustand erreicht haben, der nach endgültigem Abschluss verlangt - jedes in sich vollendet und zugleich doch stets Teil eines fortlaufenden Zyklus, der sich oft über mehrere Jahre hinweg erstreckt.
"Regellos und Abweichung" heißt eines der hier ausgestellten Werke aus den 1990er Jahren, das exemplarisch davon spricht, was Corradini in ihrer Malerei intendiert. Nicht um das "Was" geht es ihr, sondern um das "Wie", was nichts anderes bedeutet, als die grundlegenden Themen der Malerei an sich zu erkunden: das Herausarbeiten des Farbklangs etwa im Kontrast von Hell zu Dunkel, Warm zu Kalt, das Erarbeiten der Formen, von splittrig, länglich, überlappend, abgebrochen bis zu fortlaufend, die Textur der Pinselschrift, sei sie wässrig oder dickflüssig, und darum, diesen einzelnen Elementen in ihrem engen Zusammenwirken Ausdruck zu geben. (So begegnen wir im genannten Leinwandbild dem kontrastierenden Farbklang von Gelb, Rotbraun, Grau und Schwarz, die mit heftigen Pinselstrichen ausgeführt, sich zur dynamischen Vertikalstruktur fügen).
Ab 1992 beginnt Corradini, die Malerei auch auf den Raum auszudehnen, "BildObjekte" nennt sich der heute rund vierhundert Teile umfassende Zyklus, in welchem von der Zweidimensionalität des Leinwandbildes zur Dreidimensionalität des Bildobjekts gewechselt wird. Es sind kleinformatige, mal tiefere, mal flachere Wandobjekte, bei welchen die Komposition meist über fünf Seiten verläuft und damit direkt in den Realraum vor stößt. Vorerst von den Leinwandbildern getrennt präsentiert, werden einzelne "BildObjekte" seit kürzerem auch dem einen oder anderen Leinwandbild beigefügt, als gleichsam malerische Anverwandte im Wechselspiel zwischen Fläche und Körper. Diese Intention, die Kompositionen um Rundungen, Ecken und Kanten zu führen und das Bewegungselement faktisch auf den Körper auszudehnen, führt nahtlos weiter zu den aktuell erarbeiteten "Preziosen". Nicht mehr als Körper an der Wand befestigt, sondern frei im Raum auf Sockeln stehend, sind sie noch stärker als die "BildObjekte" im Zwischenbereich von Malerei und Skulptur angesiedelt; Objekte zum Umrunden gedacht, den Betrachter dazu auffordernd, den malerischen Bewegungsverlauf über Rundungen oder Kanten mit der eigenen Bewegung nachzuvollziehen.
»Epiphyten«, Tondi mit zwei Seiten, 2011, Acryl auf Holz, ∅ 35 cm
Galerie im Rathaus Tempelhof, Berlin, 2011
© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Bignia Corradini
Losgelöst von der Wand, frei im Raum schwebend und sich drehend ist auch der Zyklus "Epiphyten" (Abb.) in diesem dreidimensional angelegten Umfeld zu sehen. Der Name geht auf einen Begriff aus der Botanik zurück. Epiphyten sind "Überpflanzen", also Aufsitzer, die sich auf lebenden oder abgestorbenen Gastpflanzen ausdehnen. Keine Schmarotzer, sondern eine eigenständige Spezies und im Fall von Corradinis malerischem Werk eine der unterschiedlichen Varianten im Umgang mit Fläche und Raum. Mit ihrem Scheibenformat sind die "Epiphyten" eine eher zarte, weil flachere Variante des Bildobjekts, zudem als Tondo ausgeführt und beidseitig bearbeitet. Vorder- und Hinterseite sind gleichwertige Partner, wenn auch unterschiedlich in der Komposition. Sie zu erfassen bedingt für den Betrachter, sich um sie herum zu bewegen und von der einen Seite zur anderen, von einem Tondo zum anderen zu wechseln, den Blick ebenso auf das einzelne Werk gerichtet wie die gesamte Gruppe im Auge. Als filigrane Installation zusammengefügt, in Größe und Rundform einheitlich gestaltet zeigen die "Epiphyten" in der farblichen und formalen Anlage ebenso gedankliche Verwandtschaft wie individuelle Unterschiede. Bild ausfüllend oder zuweilen nur den weißen Grund streifend und überdeckend, breit gefächert oder schlierig, eilen die Pinselzüge in Diagonalrichtung, um sich zuweilen abrupt zu einem runden Schlenker oder angedeuteten Kreisbogen zu formen.
Schalterhalle, Clariden Leu AG, Zürich, 2009
© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Jean-Pierre Grüter, Luzern
Der Typus des Tondo wird von Corradini auch im Werkzyklus "Phasmiden" aufgenommen. So sind zwei großformatige Beispiele, von weitem sichtbar hoch in den Abschlussbogen der Rückwand platziert sind. Das Rundbild, in der Renaissance aufkommend ist in der heutigen Malerei eher ungebräuchlich, muss doch seine prägnante Endlosform bei der Komposition stets mit einbezogen werden. In Corradinis Malerei erweist sich das Tondo als eine weitere Ausdehnung der Malereierforschung, mit andersartig akzentuierten Form- und Farbkonstellationen scheinbar selbstverständlich bezwungen. Den fremdartigen Titel "Phasmiden" hat die Künstlerin einem Essayband entnommen, vom Kunstwissenschafter und Philosophen Georges Didi-Hubermann verfasst. In einem Abschnitt des Buches geht es um Insekten, die "wandelnde Blätter" oder eben "Phasmiden" genannt werden, da sie ihr Aussehen, von der Pflanzenwelt ununterscheidbar, vollständig ihrer Umwelt angeglichen haben. Was Corradinis Malerei betrifft, so sind die Phasmiden eher als Metapher des Erscheinens zu verstehen, so wie es Hubermann mit folgenden, hier gekürzten, Worten umschreibt. "Was schon auf den ersten Blick ersichtlich ist, was sich ungestört erkennen lässt, kann nie erscheinen. Wohl ist ein solches Ding sichtbar - aber eben nur sichtbar: nie sehen wir es im Moment seines Erscheinens. Was macht also die Erscheinung aus? Bevor das, was in Erscheinung tritt, sein vermutlich dauerhaftes, sein hoffentlich definitives Aussehen annimmt? Es ist eine Paradoxie, weil das, was in Erscheinung tritt, während es sich der sichtbaren Welt öffnet, sich zugleich in gewisser Weise zu verbergen beginnt, in diesem einzigen Moment etwas von der Kehrseite der sichtbaren Welt, von ihrer Unterwelt, erkennen lässt." Auf Corradinis Malerei übertragen steht also das Streben nach der Bildhaftigkeit des Erscheinens im Vordergrund oder anders gesagt die Kreation einer künstlerischen Gegenwelt.
»Phasmiden I«, 2008, Acryl auf Leinwand, ∅ 120 cm
© Bignia Corradini und VG Bild-Kunst Bonn, 2018 / Foto: Lepkowski Studios
Nicht das "Was", sondern das "Wie" liege Corradinis Malerei zugrunde, geht die Behauptung und dieses "Wie" führt seit kurzem in eine neue Richtung, wenn auch von früheren Forschungen genährt. Die Künstlerin war während ihres Aufenthalts in New York 1988 auf Musterbücher islamischer Ornamentik gestoßen. Sie hatte deren komplizierte, auf mathematischen Grundgesetzen beruhende Linearstrukturen in gestischer Handschrift mit Aquarell- und Gouachekompositionen überdeckt. Damals in heftigem Gegenzug zur ornamentalen Ordnung arbeitend, hat sie für sich die präzise Schönheit dieser Ornamentik vor kürzerem wie neu entdeckt. Von ihr ausgewählte verschiedenartige Ornamentalsysteme werden zerschnitten und in freier Kombination vorerst mit Kohle auf die Leinwand übertragen. Nach dieser Vorarbeit werden die Bänder und Felder mit bis zu zwölf Farben übermalt, so dass vielfarbige kreisrunde Verschlingungen oder rhombenförmige Felder entstehen, bis die Leinwand vollumfänglich mit einer kaleidoskopartigen Struktur überdeckt ist. Moderne westliche Kultur und traditionelle orientalische Kunst vereinigen sich in diesem neu begonnenen Zyklus - ein neues Feld für die Künstlerin, in welchem Farbe und Form unter verlagerten Gesichtspunkten untersucht werden, spannungsreich und überzeugend auch diese.
Die Malerei, so oft tot gesagt, sie lebt - sagen uns Corradinis Werk und diese aktuelle Ausstellung. Sich davon zu überzeugen - und diese Werke nun in Ruhe oder im angeregten Diskurs zu betrachten, laden die Künstlerin und die Gastgeber Sie, liebe Gäste, ganz herzlich ein.
2. April 2009
Clariden Leu AG, Zürich
© Elisabeth Grossmann, Aarau