Katrin Bettina Müller
Im nächsten Augenblick
ist alles ganz anders
Es gibt keinen Stillstand in den Bildern der Malerin Bignia Corradini. Jeder Spritzer, jeder Wischer steht mit den Schwer- und den Fliehkräften in Verbindung, die das Bildgeschehen zusammenhalten und auseinanderdrücken
Kurz, kurz, lang: Wie die unterschiedlichen Signale des Morsealphabets schieben sich kleine bemalte Quader in den Raum.
Manche sind flach wie ein Bild, andere stoßen bis zu 25 Zentimeter weit vor. Mit jedem Schritt des Betrachters verändert sich die Kombination der differenziert bemalten Flächen. In ihnen manifestiert sich die spontane malerische Geste ebenso wie der kalkulierte Aufbau, das Beobachten von Farbverläufen ebenso wie die entschiedene Setzung.
Seit 1992 arbeitet die Schweizer Malerin Bignia Corradini in ihrem Kreuzberger Atelier an den Quadern. Den Anfang bildeten Keks- und Zigarrenschachteln, bei deren Bearbeitung die Künstlerin bald die Möglichkeit entdeckte, malerische Elemente, die auch in ihren großen Bildern vorkommen, immer wieder neu zueinander ins Verhältnis zu setzen. Inzwischen umfasst "Die Sammlung", wie die Installation aus den Quadern heißt, mehr als 200 Elemente.
Die Struktur der Arbeit ist offen wie ein Stapel Wortkarten, aus dem man verschiedene Sätze bilden kann, um schließlich eine Geschichte zu erzählen. Mit den Quadern wird selbst die weiße Wand zwischen den bemalten Flächen zu einem gestaltenden Element wie die Pausen, die wir beim Reden machen.
Situationen offenhalten, Wechselbeziehungen ausprobieren, das Unterscheidungsvermögen schärfen, Nichtkontrollierbares zulassen, Entscheidungen herausfordern: das ist für Bignia Corradini nicht nur eine Frage der Ästhetik. Flexible Strukturen sowie Reaktions- und Erkenntnisvermögen interessieren sie auch als theoretisches Modell. Wie funktioniert die Wahrnehmung? Wie weit prägt die Struktur unserer Sinnesorgane das Bild, das wir uns von der Realität machen? Wie kann man über die Unterschiede der Wahrnehmung reden, wenn doch jeder nur seine "Bilder im Kopf" kennt? Seit ich Bignia Corradini vor fünf Jahren in einer Lesegruppe von Künstlerinnen und Journalistinnen kennengelernt habe, verfolgt sie die Spur dieser Fragen hartnäckig in philosophischen und soziologischen Texten, spürt ihnen in den Sprachbildern von Gertrude Stein ebenso nach wie in kunstkritischen Abhandlungen.
Doch diesen Hunger nach Theorie will sie selbst nicht in einen unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer Malerei bringen. Denn sie malt keine Konzepte, illustriert keine Denkmodelle. Vielmehr erlebt sie die Malerei als ein konkretes Feld der Erfahrung, das unendliche Möglichkeiten der Beobachtung und Analyse, des Eingriffs und der Entscheidung bietet.
Den großen Leinwandbildern, die sie in der Genthiner Elf ausstellt, ist eine lange Geschichte der abstrakten Malerei vom Konstruktivismus über Informel und Action-Painting vorausgegangen. Manchmal scheinen ihre Bilder die Summe aus gebauten Kompositionen und dem spontanen Niederschlag von Stimmungen und Befindlichkeiten zu ziehen. Sie erzählen von Konzentration, Behauptungen und der Bündelung von Energien, von zielgerichteter Dynamik und scharfen Trennungen; dann wieder verflüssigen sich die Elemente, verbinden sich, werden durchlässig und organisch. Doch die Verschränkung und das Auseinanderdriften der im Bild zusammenkommenden Kräfte ist weniger Spiegel eines emotionalen Ausdrucks als vielmehr eine Form der Reflexion, die der Verflechtung von Verstand und Gefühl, Erinnerung und Gegenwart entspricht.
Seit sie 1973 zum Studium an die Hochschule der Künste nach Berlin kam, hat Bignia Corradini hier gelebt mit Unterbrechungen von mehrmonatigen Arbeitsaufenthalten in New York, Genua und Zürich. Doch ihr Publikum fand sie bisher fast nur in der Schweiz: Dort stellen Galerien jährlich ihre Arbeit vor, dort leben ihre Sammler. In Zürich erhielt sie auch große architekturbezogene Aufträge in Bankhäusern.
In Berlin hatte sie es fast schon aufgegeben, sich noch länger über das Desinteresse an zeitgenössischen Positionen der Malerei aufzuregen, da bot sich glücklicherweise die Gelegenheit, in der Genthiner Elf auszustellen. Diesen Raum bieten kunstinteressierte Anwälte, die keinem anderen Kriterium als der eigenen Überzeugung verpflichtet sind, Künstlern an. Den Kontakt mit Bignia Corradini stiftete eine alte Verbindung zu dem Maler Ter Hell, der der erste Gast der kleinen AusstelIungshalle war. Ihn kannte Bignia noch aus der Zeit, als sie 1979 in der Galerie am Moritzplatz ausgestellt hatte. Dass sie tatsächlich der gleichen Generation wie die damals "jungen Wilden" angehört, verraten ihre Bilder längst nicht mehr. Denn sie interessiert weniger das Festhalten von Ursprünglichkeit und Authentizität als vielmehr die malerische Erzeugung von Gegenwärtigkeit. Dass im nächsten Augenblick alles schon wieder ganz sein könnte, verbindet ihre Bilder.
© Katrin Bettina Müller, Berlin
in "TIP" - Berlin Magazin, Nr. 18/98, 20.8 - 2.9. 1998